Wer ritzt, ist in einen Teufelskreis geraten, kommt da nicht so schnell wieder raus und das vor allem nicht alleine. Was steckt hinter dem Ritzen, was sind die Ursachen und was will man damit erreichen. Die Antworten des Kinder-und Jugendpsychotherapeuten Phillip Hammelstein waren sehr verständlich.

 

1. Was versteht man unter Ritzen und was ist es?

Unter „Ritzen“ versteht man meist, das absichtliche oberflächliche Verletzen des eigenen Körpers mit Hilfe von Rasierklingen, Nagelscheren oder ähnlichem.

2. Ist Ritzen eine Krankheit und kann es zur Sucht werden?

Das Ritzen selbst ist keine Krankheit, es kann aber im Rahmen von schwierigen seelischen Phasen oder auch Störungen auftreten. Und wenn man sich häufiger schneidet, ist es irgendwann sehr schwierig, wieder davon zu lassen.

3. Warum ritzt man sich?

Das kann unterschiedliche Gründe haben. Es gibt wahrscheinlich drei unterschiedliche Gründe, die ich gerne an Beispielen erläutern würde.

Anna
ist 16 Jahre alt und hat in ihrer Vergangenheit schlimme Dinge erlebt. Deshalb gerät sie immer wieder in Situationen, in denen sie extrem angespannt ist. Das Ritzen hilft ihr, aus diesem Spannungszustand wieder herauszukommen.

Bettina
ist 15 und kann sich selbst nicht leiden. Manchmal ist der Selbsthass so groß, dass sie sich selber weh tun möchte, um sich „zu bestrafen“.

Christina
ist 15 und in einer Schulklasse, in der sich einige am Unterarm ritzen. Sie findet das irgendwie cool und es ist was Besonderes, also macht sie es eine zeitlang selbst.

4. Verhalten sich die Leute anders, wenn sie sich ritzen und woran erkennt man, dass sie es tun?

Nein. Menschen, die sich ritzen, verhalten sich nicht unbedingt anders. Man kann das auch nicht von außen erkennen.

5. Wie kann man jemandem helfen,wenn er sich ritzt und wie soll man mit ihm umgehen?

Ich würde ihn fragen, ob er gerade Unterstützung gebrauchen kann, ein Ohr zum Zuhören. Und würde es genauso akzeptieren, wenn derjenige lieber Zeit für sich haben möchte.

6. Ich habe gehört, dass sich viele Jugendliche ritzen, stimmt das? und wenn ja, haben Sie dafür eine Erklärung?

Ungefähr 4% aller Jugendlichen ritzen sich mehrfach im Jahr. Dass dies bei Jugendlichen häufiger ist als bei Erwachsenen mag daran liegen, dass im Jugendalter viele neue und zum Teil auch fremde Gefühle auf uns einströmen und das Älterwerden in der Zeit häufig mit vielen Konflikten einhergeht. Das Ritzen erscheint als eine Möglichkeit, mit diesen Gefühlen umzugehen (sie wettzumachen, durch Schmerz zu ersetzen etc.), allerdings zum Preis von vielen kleinen Narben.

7.An welchen Stellen ritzt man sich am meisten?

Meistens an den Unterarmen oder an den Oberschenkeln.

8. Ritzen ist ein Hilferuf oder? und warum hört den fast keiner?

Das Ritzen kann ein Hilferuf sein. Aber meistens gab es schon einige andere Hilferufe in der Zeit davor, die auch nicht gehört wurden. Viele Erwachsene haben verlernt, richtig zuzuhören. Und was Jugendliche, die sich ritzen, in diesem Moment meiner Erfahrung nach nicht brauchen, sind gute Ratschläge, sondern jemanden, der versucht, zu verstehen, was eigentlich los ist.

9. Warum verstecken die Betroffenden ihre Narben und gehen nicht zu jemandem, dem sie vertrauen?

Viele Jugendliche (wie Anna aus unserem Beispiel) nutzen das Ritzen als Möglichkeit, sich in schwierigen Situationen zu helfen. Gleichzeitig schämen sie sich aber auch dafür, dass sie sich so etwas antun und möchten darauf nicht angesprochen werden.

10.Wer kann einem helfen, wenn man soweit ist und Hilfe haben möchte?

Zum einen gibt es telefonische Beratungsangebote für Jugendliche (z.B. www.nummergegenkummer.de). Die Menschen dort können auch den Weg zu weiterer Hilfe, z.B. durch einen Kinder- und Jugendlichentherapeuten erleichtern. Eine andere Möglichkeit ist es, sich an den Vertrauenslehrer seiner Schule zu wenden.

11.Was passiert mit uns körperlich sowie auch seelisch, wenn wir uns ritzen?

Es passiert nicht bei jedem das Gleiche, wenn man sich ritzt. Das hängt auch sehr mit den Umständen zusammen. Wenn ich mich beispielsweise ritze, weil ich in so einer hohen Anspannung bin, dann werde ich durch das Ritzen ruhiger und kann mich wieder mehr spüren. In diesem Fall spüre ich auch beim Ritzen keinen Schmerz. Ritze ich mich aber, weil ich mich selber so stark ablehne, dann spüre ich den Schmerz meist direkt.

12.Hat das Ritzen Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Kopfschmerzen?

Nein. Die „Nebenwirkungen“ des Ritzens bestehen vor allen in den Narben, die sich auf der Haut bilden.

13. Wie wird einem in einer Therapie geholfen?

In einer Therapie geht es darum, zunächst zu verstehen, weshalb ich mich ritze. Und dann lerne ich Strategien, mit denen ich selber Anspannungen regulieren kann (Psychologen nennen das „Skills“), ohne dass solche Narben zurückbleiben. Oder aber ich lerne, mich selber besser zu akzeptieren, damit ich keinen Grund mehr habe, mich selber zu bestrafen. Außerdem geht es dann in einer Therapie darum, zu schauen, welche Probleme dazu beigetragen haben, dass ich angefangen habe, mich zu ritzen und wie man diese Probleme lösen oder aber zumindest die Situation verbessern kann.

14.Ist man irgendwann soweit, dass man sich umbringt?

Ritzen bedeutet nicht unbedingt, dass ich nicht mehr leben will. Aber die Lebenssituation der Betroffenen kann so schwierig sein, dass manche von ihnen irgendwann keinen anderen Ausweg mehr sehen. Deshalb ist es so wichtig, dass man diesen Jugendlichen Hilfe anbietet, ohne sich aufzudrängen.

15.Viele denken das Ritzen ein Schrei nach Aufmerksamkeit ist, würden sie dem zustimmen?

Ich denke, dass es zu einfach ist, dies als Schrei nach Aufmerksamkeit zu verstehen, denn der Hauptgrund ist meist ein anderer. Wenn man aber “Schrei nach Aufmerksamkeit” so versteht, dass vielleicht auch der Wunsch dahinter stehen mag, dass jemand einem endlich helfen kann,dann mag dies schon bei einigen zutreffen.

Herr Hammelstein, vielen Dank für das Interview

 

Wenn du soweit bist und dich nicht mehr ritzen möchtest, solltest du dir Hilfe holen. Am besten wäre es, wenn du deinen Eltern Bescheid gibst, damit sie schnell genug handeln können, wenn du ein Rückfall hast. Ich kann gut verstehen, wenn du es nicht möchtest aber deine Eltern kennen dich so gut, dass sie irgendwann merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn du zum Psychologen gehst, musst du es deinen Eltern irgendwann sagen, da die Krankenkasse das bezahlen muss. Wenn es für dich auf keinen Fall in Frage kommt deinen Eltern das zu erzählen, dann wende dich an eine Person, der du vertraust , bei der du das Gefühl hast, die- oder derjenige kann dir zuhören und vielleicht auch helfen. Ich wünsche dir viel Glück.

Hier ist der Link zur Website des Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeuten Philipp Hammelstein.

http://www.c-d-k.de